The Tangent - COMM

The Tangent - COMM
insideout music (2011)
(5 Stücke, 57:42 Minuten Spielzeit)

Vor fast 100 Jahren fand der wichtigste Moment in der Geschichte der elektronischen Kommunikation statt, wurde aber eher als großes Desaster bekannt: Ein am 14. April 1912 eingehender Morse-Notruf sorgte dafür, dass Hunderte Leben von der RMS Titanic gerettet werden konnten – Leben, die ohne das neue „Radio“ verloren gewesen wären. In den folgenden 100 Jahren haben die Riffel der Titanic in der Magnetosphäre dann die Rettung von Menschen im All, die Geburt des Fernsehens, den massiven Siegeszug des Internets und der mobilen Kommunikationstechnologien gesehen.


Wir leben in einer Welt, die immer eintöniger wird, in der The Tangent aber dennoch sowohl positive als auch negative Dinge finden, über die sie singen können.

The Tangent aus Nordengland haben seit jeher eine führende Rolle in der elektronischen Kommunikation eingenommen: 1996 postete Tangent-Anführer Andy Tillison am gleichen Tag, als der Fraunhofer-MP3-Codec veröffentlicht wurde, das allererste MP3-Promotion-File einer Band im Internet (welch eine Behauptung – allerdings wurde das File nur wenige Stunden nach dem Release der Software online gestellt, insofern kann man zu 99,9 Prozent davon ausgehen, dass dies der erste von einer Band gemachte MP3-Track der Welt war). Außerdem wurden The Tangent dafür gerühmt, dass sie sich für die Aufnahmen ihres ersten Albums das Web zunutze machten, um UK mit Schweden zu verbinden und die Musik für dieses Album zu kreieren, ohne dass sich die Bandmitglieder vorher überhaupt persönlich getroffen hatten. Nun konzentrieren sie ihre musikalische Aufmerksamkeit auf jene Kräfte, die sie einst zusammenbrachten, und sägen mit Freude selbst an dem Ast, auf dem sie sitzen. Doch nicht nur das:

Zudem gibt es ein Solo auf dem Album, das von einem Musiker gespielt wird, der an einem Wettbewerb teilgenommen hatte, den The Tangent selbst ausgelobt hatten: Über das Internet sollte man ein Solo für die Band aufnehmen, und Musiker aus aller Welt hatten ihre Beiträge eingereicht, aus denen die Fans von The Tangent den besten auswählten. Ein weiteres Novum für die Band.

Mit „COMM“ veröffentlichen The Tangent um Mastermind Andy Tillison ihr mittlerweile sechstes Album. Auch wenn die Band bzw. das Musikprojekt bereits seit Ende der 70’er Jahre besteht, so dauerte es doch bis zum Jahr 2003, bis mit „The Music That Dies Alone“ das erste Album auf den Markt kam. Seither veröffentlichen The Tangent – mit teils wechselnden Musikern – aber regelmäßig Alben.

Tillison blickt mit seinen Mitstreitern auf die Welt in der wir leben und die Besessenheit, der wir uns den Kommunikationsmedien unterwerfen. In Zeiten, wo das I-Phone zum Kultstatus geworden ist und den meisten das Smartphone schon an Arm, Ohr und Auge gewachsen scheint, ist das wahrlich ein Thema, über das man sprechen oder singen sollte. Tillison tut dies in fünf Songs. Die beiden Longtracks, die die restlichen Stücke des Albums einrahmen, sind in jeweils sechs Parts unterteilt, die allerdings nicht einzeln angewählt werden können (zumindest nicht in meiner Downloadversion).

Den Start ins Album machen wir mit dem mehr als 20minütigen „The Wiki Man“. Zunächst hört man Geräusche, die man von einer sich aufbauenden  Faxverbindung her kennt und das Keyboard klingt zunächst dazu wie ein Morsezeichen. Dann aber startet ein für The Tangent üblicher Track, der herrliche Retrosounds mit modernen vermischt und eine ganz eigene Atmosphäre bildet. Das ist Progrock vom Feinsten, so wie man es von der Band gewohnt ist. Nichts Neues halt, aber beständig und das, was man erwartet hat. Vor allem zu Beginn flitzen Andy’s Finger über die Tasten. Wie für einen Longtrack üblich wechseln Stimmungen, Rhythmus, Strukturen und Melodieführung. Ein klasse Stück.

„The Mind’s Eye“ ist ein treibender Prog-Rocksong der vor allem vom Schlagzeug vorangetrieben wird. Im Mittelteil wird es dann recht spooky und spacig, denn Andy erzeugt mit seinen Keyboard-Sounds ungewohnte, teils jazzige Stimmungsbögen, um danach wieder ordentlich loszurocken. „Shoot Them Down“ ist eine herrliche Downtemponummer mit Satzgesang, die mich an Bands wie Barclay James Harvest & Co. erinnert. Ein toller fesselnder Song, der schnell ins Ohr geht und durch den Einsatz von Klarinette noch mal eine besondere Note bekommt.

ELP-Keyboard und Ian Anderson-Flöte begleiten den Rocksong „Tech Support Guy“, der damit sehr vertraut klingt. Den Abschluss bildet dann das mehr als 16minütige „Titanic Calls Carpathia“. Ein Gong und mystische, klassische, fast Soundtrackartige Parts eröffnen dieses Stück. Dazu hört man Rauschen und man hat das Gefühl ein Schiff zu sehen, das bei Nacht die Wellen des Meeres bricht. Sehr schön hat Andy diese Atmosphäre eingefangen. Gut zweieinhalb Minuten dauert das Intro, bis The Tangent dann das Rockgewand überwerfen und sich ein fesselnder Longtrack herausschält. Auch in diesem Stück kommen verschiedene Musikstile, Breaks, Struktur- und Melodiewechsel zum Tragen. Dabei hält die Band den Spannungsbogen immer hoch.

Mit „COMM“ haben sich Andy Tillison und The Tangent zwar nicht neu erfunden, liefern aber ein sehr gutes, homogenes und hochmelodisches Album ab. Wie seine Vorgänger so ist auch „COMM“ auf hohem Niveau. Mir gefällt das Album, daher kann ich es bedenkenlos empfehlen.

Stephan Schelle, Oktober 2011

   

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