Ermes / Harms - Fingerhut
 

Ermes / Harms - Fingerhut
Sireena Records / Broken Silence (2020)
(12 Stücke, 77:59 Minuten Spielzeit)

Ermes / Harms ist ein neues Duo im Bereich der Elektronikmusik. „Fingerhut“, das am 18.09.2020 erscheint, stellt das Debütalbum der beiden Elektroniker dar. Allerdings ist es wohl ein Novum, dass die Erstellung des Albums gut 30 Jahre gedauert hat. Axel Ermes und Hauke Harms haben sich viel Zeit gelassen um ihre Klanglandschaften zu finalisieren. Dem sechsseitigen Papersleeve ist zu entnehmen, das die einzelnen Stücke zwischen 1989 und 2019 entstanden sind. 

 

 


Hier zunächst einige Infos: Ein genaues Gründungsdatum für dieses Projekt ist nur schwer zu rekonstruieren. „Ende der 80er Jahre“ trifft es wohl am besten. Hauke Harms und Axel Ermes lernten sich damals bei GIRLS UNDER GLASS kennen und begannen nebenbei sehr unregelmäßig aber in der Situation immer äußerst intensiv mit elektronischen Sounds, analogen Synthesizern und ungewöhnlichen Klängen zu experimentieren, teilweise selbst mit einem kleinen Aufnahmegerät in den Wäldern Norddeutschlands aufgenommen.

Geistige und kompositorische Vorbilder sind sicherlich Klaus Schulze, Cluster, Can und einige weitere Protagonisten des 70er Jahre Krautrocks, aber auch modernere Produktionen wie Autechre oder Emptyset zählen mittlerweile zu ihren Einflüssen. Außerdem sind es Komponisten wie Steve Reich oder John Cage gewesen, die Ohren und Seele der beiden Hamburger für ungewöhnliche Klangcollagen geöffnet haben.

In den 90er Jahren waren es zumeist endlos lange Sessions in verschiedenen Studios oder Proberäumen in und um Hamburg, seit den 2000ern sind es vermehrt ausgewählte exotische Locations (ehemaliges Wasserwerk in Billbrook, das (Weltkulturerbe) Bergwerk Rammelsberg in Goslar (Harz), etwa 500 m tief unter der Erde, oder ein leerstehendes Getreidesilo in der Nordheide um nur einige der interessantesten Plätze zu nennen, wo sich die beiden Soundtüftler getroffen haben um ihre Klangcollagen zu erstellen).

Melodien sind nicht wirklich in den Stücken von Ermes / Harms zu finden. Gelegentlich blitzen mal Harmonien auf. Allerdings verströmen die meisten Klanggebilde und Rhythmusmuster eine merkwürdige Anziehungs- und Sogkraft, aus der man sich kaum befreien kann. Am besten kommen die Stücke der beiden CDs (Warum eigentlich zwei, wo die Stücke doch auch auf einen Silberling gepasst hätten?) wenn man sie laut über die Stereoanlage oder per Kopfhörer auf sich wirken lässt.

Beim die erste CD eröffnenden, knapp unter fünf Minuten liegenden „Farbe Rot“ lassen die beiden ihre elektronischen Geräte ganz schön zischen und wabern. Dann kommen einige Flächen auf, die sich unter die wabernden Klanggebilde legen und es entsteht hier schon eine harmonische Stimmung, die voluminös klingt. Dem folgt dann das sechsminütige „Farbe Sand“. Die Sounds, die hier aus den Boxen kommen, bestehen aus einer Grundfläche, auf denen die beiden dann einige elektronische Effekte platzieren. Trotz fehlender Harmoniebögen, strahlt der Track doch eine gewisse Faszination aus.

Mit 17:07 Minuten ist „Farbe 23“ der längste Track des Albums. Ein einzelner Ton bestimmt die erste Minute. Dann kommen Flächen auf, die eine relaxte Atmo erzeugen. Nach nicht ganz drei Minuten ändert sich das Bild und es wird leicht avantgardistisch. Undefinierbare Klänge, gefolgt von perlenden Synthiesounds, die an Kraftwerk erinnern, kommen auf. Das Ganze klingt aber alles andere als nach Kraftwerk, vielmehr wirkt der Track recht experimentell. Die beiden legen hier den Fokus auf Klangerzeugung und Stereoeffekte. Es dauert fast sieben Minuten bis dumpfe Rhythmusmuster und Harmonien aufziehen. Jetzt entfaltet das Stück seine Strahlkraft. Die beiden verändern und variieren die Sounds und den Rhythmus leicht bis hin zu einem stoischen, hypnotischen Tribalpart.

Das 3:34minütige „Zahl Null“ besteht fast nur aus rauschenden Synthiesounds, die aufeinander gestapelt und von akzentuiert gesetzten Klängen verziert werden. „Zahl Eins“, das die CD 1 beendet, besitzt zwar hellere Klangfarben und enthält auch einige zarte Harmonieansätze, zieht aber trotzdem recht stoisch durch den Raum.

Die zweite CD beginnt mit dem 3:42minütige Stück „Märchen 1“. Pulsierende Synthiesounds und ein stoischer, an Electropop erinnernder Rhythmus (Depeche Mode kommen mir hier in den Sinn), der im Hintergrund liegt, sind der Unterbau dieses Stückes. Hierauf platzieren die beiden zirpende Klanggebilde. Aus irgendeinem Grunde wirkt das Ganze jedoch harmonisch. Dem schließt dich das 6:36minütige „Märchen 2“ an. Treibende Rhythmen sind nun zu hören. Darauf finden sich teils bedrohlich wirkende Synthieeinschübe. Es wirkt allerdings auch so als würde man zum Beispiel einem schnellen Radfahrer zusehen. Das ist Kopfkino pur.

In „Echos“ wird der Grundrhythmus noch einmal angezogen. Der Rhythmus hört sich an, wie ein Automotor. Dem setzten sie dann fliegende, wehende und im weiteren Verlauf auch leicht verzerrte Synthsounds entgegen. Ein sehr experimentelles Stück. Bedrohlich wirken auch die Sounds, die zu Beginn des 6:40minütigen „Reise nach Digitalis 1“ aufkommen. Dann kommt aber ein Rhythmus auf, der sich irgendwie ethnisch anhört (wie bei einem afrikanischen Stammestanz), aber elektronisch erzeugt zu sein scheint. Das geht dann die Ganze Zeit so weiter und wird nur von Klangskulpturen, die eingefügt werden, unterbrochen.

„Reise Nach Digitalis 2“ bringt es auf acht Minuten und zeigt sich zunächst von einer rhythmisch, harmonischen Seite. Aber auch hier bestimmt der Grundrhythmus den Track, auf den dann einzelne Klänge, die recht harmonisch wirken, platziert werden. Das 7:18minütige „Tief im Berg“, bei dem Geräusche eingebaut sind, die nach Vogelgezwitscher klingen und das melodisch/rhythmische „Margeriten am Bach“ beschließen dann das Album.

Der Hörer wird von Ermes / Harms auf ihrem Album „Fingerhut“ auf eine spannende Klangreise durch ihre akribisch umgesetzten akustischen Phantasien und teilweise aber auch zufällig entstandenen Klangereignisse wie Feedbacks oder elektronische Störungen mitgenommen. Das ist oft recht experimentell und stoisch und es finden sich weitestgehend auch keine Harmonien in den Stücken. Klanglich macht das aber eine Menge her und zieht den Hörer so in einen Malstrom aus Klängen. Meine Empfehlung: Unbedingt laut oder über Kopfhörer wahrnehmen.

Stephan Schelle, September 2020

 
   

CD-Kritiken-Menue