Artikel aus MusikSzene 4/1984

 

Kinder und Narren

heißt das neue Album der Hagener, die, gemessen an der Kurzlebigkeit heutiger Musikerkarrieren, eigentlich immer schon da sind. Unbeschadet von Wellen und Wenden setzen sie ihren Weg fort. Die Fans sind ihnen, allen Unkenrufen zum Trotz, immer treu geblieben, und neue kamen dazu, zuletzt durch ihren ersten Singlehit, der streckenweise arg pathetischen Umwelthymne "Wir wollen leben". Für "Kinder und Narren" könnte die Band manch einer halten, wenn man sieht, was sie sich für die nächsten Monate vorgenommen haben, aber meistens haben sie mit ihrer Dickköpfigkeit ja recht behalten. Ohne Angst vor dem, was im Zeitalter von Plattenpleiten und Tourneesabsagen an Gefahren am Wegesrand droht, hat Lupo wieder eine Mammuttournee durch deutsche Lande zusammengestellt, und die großen Hallen haben im Tourplan ihren festen Platz wie eh und je. Ansonsten gibt es allerdings einige gewichtige Änderungen zu vermelden: Nach Keyboarder Mist, der schon auf der letzten Tour durch Jürgen Kramer ersetzt wurde, hat nun der Schlagzeuger Eroc seinen Stuhl freigemacht und wurde durch Peter Jureit (Ex-Conditors) abgelöst Auch musikalisch hat sich eine Menge getan: Simmons-Drums, digitale Keyboards, leichte Funk-Anflüge markieren den Sound, aber auch die Rückkehr zu melodiösen, optimistischeren Klängen als bei dem eher düsteren "Razzia"-Album, auf dem auch "Wir wollen leben" vertreten war. Daß die Nummer zum Erfolg wurde, sei allerdings eher ein Zufall gewesen, sagt Lupo im Gespräch, auf Singles hätten sie schließlich nie gesetzt. Deshalb wolle man mit "Kinder und Narren" - ganz gegen den Trend zur Single - auch wieder ein ganzes Album bei den auf Drei-Minuten-Stücke geeichten Ohren der Medienleute "durchbringen". Was im Falle von "Kinder und Narren" auch unverzichtbar erscheint, denn es handelt sich - natürlich auch ganz unmodern - um ein Konzeptalbum auf der Basis eines selbstgeschriebenen Märchens. Fulio, der Narr, ist ausgezogen, ein Orakel zu erfüllen: "Nur wenn der Narr echte Liebe gespürt / wird die Zukunft befreit und zum Anfang geführt / Liebe ist echt, wenn du nicht an ihr hängst / sonst muß der König regieren". Die Könige sind in dieser Fabel die Menschen, die glauben, ihre Macht über andere sei unbegrenzt - bis in den Himmel. Darüber haben sie vergessen, daß sie nur Himmel sein können, wenn sie auch Erde sind - bis der Narr ihnen den Spiegel vorhält. Eine schöne Geschichte, ein schöner Traum - über die Wirklichkeit ein Interview mit Lupo und Milla Kapolke.

FACHBLATT: Wer veranstaltet heute eigentlich noch Grobschnitt-Konzerte?

LUPO: Du wirst lachen, aber die Leute rennen mir die Bude ein. Ich bin jetzt beim 38. Konzert für diese Tour, und es läuft wie in unseren besten Zeiten. Die Veranstalter sind teilweise dieselben Leute, die auch für Lippmann und Rau oder Mama? die örtliche Durchführung machen. Wir spielen a genauso wie früher in der Grugahalle oder in der Philipshalle. In der Gruga waren auch bei der letzten Tour noch 3.000 Leute. Nur die meisten Presseleute sehen das nicht, weil die sich einfach nicht informieren. Bei denen geht es nur nach dem Motto: Das muß ja jetzt endlich mal vorbei sein mit den Jungs - die gibt’s ja schon sooo lange. Dabei mußt du Grobschnitt immer so sehen, als ob’s die Gruppe erst seit einem Jahr gibt - so fit sind die Jungs immer noch. Von dem Gedanken, daß du uns vielleicht schon 1974 oder gar 1972 gesehen hast, mußt du dich ganz lösen.

FACHBLATT: Aber irgendwie ist Grobschnitt trotzdem ein Anachronismus - ein liebgewordenes Überbleibsel aus der guten alten Zeit. Ärgert euch diese Sehweise?

MILLA: Wir fühlen uns einfach nicht so, müssen aber mit diesem Image leben. Natürlich hat einer, wenn er den Namen Grobschnitt hört, 1.000 Assoziationen und Erinnerungen und kann gar nicht unvoreingenommen an eine neue Platte herangehen, auch wenn es für uns so ist, daß "Kinder und Narren" etwas ganz anderes ist als alle anderen Platten. Wir haben immer wieder neue Ware ausprobiert, und wenn man, sagen wir mal, "Wir wollen leben" mit "Rockpommels-Land" vergleicht, dann liegen doch Welten dazwischen. Aber wir stehen natürlich zu unserer Geschichte. Ärgern wir uns? Nee, weiß ich eigentlich nicht.

LUPO: Schlimm sind nur die Vorurteile, von einer Band, die solange im Geschäft ist, könne man ja nichts mehr erwarten. Wenn die Stones eine neue Platte machen, fragt auch keiner danach, ob die schon 20 Jahre dabei sind, und sie kommen auf alle Titelseiten. Letztlich entscheiden die Fans, was sie hören wollen, egal, ob du ein oder zehn Jahre dabei bist.

FACHBLATT: Und was, wenn sie entscheiden, daß sie Grobschnitt jetzt wirklich nicht mehr hören wollen?

LUPO: Dann hast du ganz einfach Pech gehabt, dann mußt du ganz einfach sagen: Gut, da hast du ‘ne LP produziert, die paßte einfach nicht in die Zeit. Aber allen Ernstes: Wir sind doch nicht doof, ich setz‘ mich doch vorher hin und überlege: Was mach‘ ich, und wie mach‘ ich das? Ich arbeite doch nicht blind drauflos, ich hab‘ doch noch Lust, weiterzuspielen.

FACHBLATT: Ein Beamter weiß, daß er seinen Job bis an sein Lebensende machen kann, und selbst ich kann in meinem Job wahrscheinlich noch viele Jahre arbeiten. Aber ‘ne Band kann nicht ewig weitermachen. Daß sich bei einer Band, die gerade anfängt und ihre ersten Erfolge feiert, keiner diese Frage stellt, ist klar, aber ihr seid in eurer Karriere nach 15 Jahren dem Ende sicher näher als dem Anfang ...

LUPO: Wir unterhalten uns über solche Sachen einfach nicht.

FACHBLATT: Sich nicht darüber unterhalten heißt nicht: nicht darüber nachdenken.

LUPO: Das sind völlig fremde Ideen.

MILLA: Daß gerade ich über so was nicht nachdenke, ist sowieso klar, für mich ist dieses "Hier und jetzt"-Gefühl einfach dominierend, auch ganz unabhängig von der Musik So ‘n Druck so ‘ne Angst vor der Zukunft kenne ich nicht. Das ist schlecht, da verkrampfst du dich und denkst höchstens: jetzt müssen wir aber mal langsam den großen Hit machen, ehe es zu spät ist. Entscheidest du dich, Profi-Musiker zu werden, dann weißt du von vornherein, daß du keine Beamten-Laufbahn vor dir hast. Ich war früher Lehrer, aber ich hatte richtig Angst vor dem Gedanken, ins Beamtenverhältnis übernommen zu werden, zu wissen, was ich an jedem Tag bis zu meinem 60. Lebensjahr machen würde. Das Leben ist doch dann schon gelaufen. Die Spannung, der Hunger nach Leben - da sind wir noch lange nicht satt.

FACHBLATT: Zumindest zwei Leute scheinen ein gewisses Gefühl von Sättigung erreicht zu haben: Schon vor der letzten großen Tournee 1982/83 hat euer alter Keyboarder Mist die Band verlassen, und jetzt ist Eroc nicht mehr dabei. Warum ist er eigentlich ausgestiegen?

LUPO: Eroc wollte schon lange ein Studio aufmachen, was er jetzt verwirklicht hat. In diesem Studio - Woodhouse in Dortmund - haben wir auch die neue LP produziert. Außerdem hatte er vom Tourstreß die Nase voll. Ob das allein die ausschlaggebenden Gründe waren, wird er selbst dir am besten beantworten können. Das Verhältnis unter uns ist aber so wie früher, kein Streß. Sein Ausstieg war von langer Hand vorbereitet, das stand schon ein Jahr vorher fest. Er hat aber die Tourneen noch mitgespielt, um einen reibungslosen Übergang zu ermöglichen. Für ihn ist jetzt Peter Jureit, Ex-Conditors, dabei.

FACHBLATT: Aber ist das nicht ein ziemlich herber Verlust? Eroc war ja nicht einfach euer Schlagzeuger, sondern eine der Figuren, die man am meisten mit Grobschnitt identifizierte.

MILLA: Das werden wir ja auf der Tour merken. Die showmäßige Präsentation wird erhalten bleiben, aber ohne den typischen Eroc-Touch. "Sahara" oder Klein Earnie, das gibt es nicht mehr, das sind wir heute einfach nicht mehr. Ansonsten bleibt Grobschnitt in voller Länge erhalten - mindestens drei Stunden lang.

FACHBLATT: Und "Solar Music" darf auch nicht sterben?

MILLA: Natürlich nicht, diesmal in der 150. Version ...

LUPO: ...die mit der Live-LP nur noch die ersten 30 Sekunden gemein hat.

FACHBLATT: Nervt das nicht langsam, immer einem bestimmten Bild zu entsprechen, z. B. immer wieder "Solar Music" spielen zu müssen? Das müßte euch doch darin behindern, mal das zu machen, was ihr wirklich wollt.

MILLA: Erstens ist es ohne Zweifel das bekannteste Stück, die Leute brüllen ja schon nach der ersten Nummer "Solar Music", zweitens ist es das Lieblingsstück der Musiker, weil man eine halbe Stunde frei improvisieren und die Sau rauslassen kann. Das ist richtig entspannend. Und wenn wir tatsächlich dem "Erfolgsrezept" von Grobschnitt treu bleiben müßten, dann könnten wir ja z. B. auf Erocs Sachen gar nicht verzichten, dann müßte Toni Moff Mollo immer noch als Klein Earnie mit dem Schulranzen rumlaufen, anstatt wie jetzt einer der Leadsänger zu sein.

FACHBLATT: Ihr seid immer ein ganz sturer Haufen gewesen, eigenbrötlerisch, etwas unflexibel. Ich weiß noch, wie du, Lupo, wüste Attacken auf Medien, Plattenfirmen, andere Gruppen, auf alles und jeden geritten hast.

LUPO: Ja, weil alle anderen uns nie ernst genommen haben. Die wußten immer nur, das sind die, die auf der Bühne Zirkus veranstalten.

MILLA: Wir waren immer die Bekloppten aus dem Sauerland, zum Glück mit einer ebenso dickköpfigen wie treuen Fangemeinde. Heute sind wir alle etwas lockerer geworden. Früher wäre es z. B. undenkbar gewesen, im Musikladen aufzutreten, wie wir das mit "Wir wollen leben" getan haben.

FACHBLATT: Ja, ich erinnere mich an eine Diskussion über einen Fernsehauftritt, als ihr gesagt habt: entweder das ganze Vierstundenprogramm oder gar nicht. Bei Festivals, auf denen ihr eine Stunde hättet spielen sollen, war es ja genauso.

LUPO: Haben wir vor zwei Jahren zum ersten Mal gemacht, und es hat richtig Spaß gemacht.

FACHBLATT: Gibt's denn noch Feuerwerk und all diese optischen Gimmicks?

LUPO: Na klar, das haben die Kids von heute ja alles noch nie gesehen.

MILLA: Die, die damals wegen "Wir wollen leben" in die Konzerte gekommen sind und dann auf einmal Feuerwerk Laserschwerter und Nebel gesehen haben, waren richtig beeindruckt, weil sie wahrscheinlich erwartet haben, daß wir wie alle anderen Gruppen unser einstündiges Programm um einen Hit stricken; Show war ja 1982/83 überhaupt nicht angesagt.

FACHBLATT: Mal eine ganz andere Frage an dich, Milla. Daß du Sannyassin bist, ist schon äußerlich unverkennbar: leuchtend rote Klamotten und die Mala mit dem Bhagwan-Bild um den Hals. Gibt das nicht manchmal Probleme in der Band?

MILLA: Nein, überhaupt nicht. Erstens steht die Band dem nicht negativ gegenüber, zweitens übertrage ich meinen Sannyassin-Trip nicht auf die Band. Ich habe mich in meinem Verhältnis zur Gruppe in den Jahren, seit ich Sannyassin bin, überhaupt nicht verändert. Ich sag' denen doch nicht: Ihr müßt mal alle mitkommen, ich weiß, wo's langgeht.

FACHBLATT: Also auf Tour nicht jeden Morgen dynamische Meditation (eine ziemlich energiegeladene, laute Übung zum Wachwerden) für alle?

MILLA: Das kannst du ja keinem Hotelnachbarn zumuten!

LUPO: Nein, es gibt nur ein wichtiges Tourgespräch: Wie hat Schalke gespielt, wie hat der FC gespielt? Und das einzige, was wirklich rot an ihm ist, ist das rote Trikot vom FC, und das ist natürlich ein rotes Tuch für mich.

FACHBLATT: Jetzt haben wir soviel über alte Zeiten geredet, werfen wir mal einen Blick auf die neue LP "Kinder und Narren", die rechtzeitig zum Tourneestart in diesen Tagen auf den Markt kommt. Inhalt dieses Konzeptalbums ist ein Märchen über Liebe als Wert an sich, nicht über Liebe als Spiel von Geben und Erhalten, eine spirituelle Geschichte. Kommt bestimmt von Milla ...

MILLA: Ja, ich habe die Geschichte geschrieben. Nach dem mehr politischen/grünen Einschlag von "Razzia", wozu ich durchaus stehe, fand ich es gut, mal so eine persönliche Sache zu bringen. Wenn man die Welt verändern will, sollte man bei sich selbst anfangen. Bei Demos den ganz Fortschrittlichen raushängen lassen und zu Hause den alten Chauvi spielen, das läuft doch nicht.

FACHBLATT: Gab es erst das Märchen selbst, oder gab es von Anfang an ein festes LP-Konzept für diese Geschichte?

MILLA: Wir sind ja immer schon Fans von Konzept-Alben gewesen, siehe Rockpommels Land, aber auch "Illegal" und "Razzia" sind von einer einheitlichen Atmosphäre geprägt, obwohl die beiden Alben keine durchgehende Geschichte haben.

LUPO: Aber es gab erst die Musik. Das war bei uns schon immer so. Die ersten drei Titel standen schon Anfang 1983.

MILLA: Ja, wir hatten diese drei Titel, und da habe ich dann irgendwann den dazugehörigen roten Faden entdeckt.

FACHBLATT: Glaubst du, daß für Leute, die in gewöhnlichen Kategorien von Liebe denken, die Geschichte verständlich ist?

MILLA: Ich hoffe es, die Platte sollte für möglichst viele zugänglich sein. Andererseits stehe ich nicht auf Texte, die man nach dem ersten Hören abhaken kann. So ‘n kleinen esoterischen Touch finde ich richtig gut. Nicht esoterisch im Sinne von abgehoben, sondern daß man sich mit dem Herzen reinfühlen muß.

FACHBLATT: Werdet ihr jetzt die Predigerband? Erst habt ihr mit "Wir wollen leben" die grobe Umweltbotschaft verkündet, und jetzt kommt ihr mit der Botschaft von der Liebe.

MILLA: Ist das so ‘ne Botschaft?

FACHBLATT: Denke ich schon. Wenn man das negativ sehen will, verfolgt dieser Text doch eine erzieherische Absicht, Leute auf etwas zu stoßen, was sie sonst nicht sehen.

MILLA: Ich steh‘ auch nicht auf erhobene Zeigefinger, und Leute, die mir weismachen wollen, daß sie den großen Durchblick haben und mir jetzt auch mal zeigen wollen, wo’s langgeht. Aber schließlich ist jede Aussage auch eine Form von Selbstdarstellung: "Hier - so sehe ich das". Und die Quintessenz der Geschichte, diese Liebe ohne Besitzansprüche, ohne Macht über andere, dieses "Ich will nicht mehr von die haben, als du mir geben willst", das anderen mitzuteilen, finde ich schon ziemlich wichtig.

Andreas Hub

 

Das Grobschnitt-Equipment

MILLA KAPOLKE: Fender Precision Special, Rickenbacker 4001 Stereo, Apex Baß Ampeg SVT Verstärker und Box, Moog Taurus Pedal, MXR Envelope Filter, Ibanez Phaser, Rotosound Saiten

PETER JUREIT: Yamaha drums 9000 Recording, Ludwig Snare, Zildjian und Paiste Becken, Simmons drums

WILLI WILDSCHWEIN: Ibanez ARtis, Ovation Akustik Gitarre, Yamaha Tenorsaxophon, Music Man Kofferverstärker 212 HD, Yamaha SB 100 Systemboard, Ernie Ball Saiten

JÜRGEN KRAMER: PPG Wave 2.2, Yamaha CS 80, Oberheim OB 8, DSX, DMX, Yamaha CD 70 B, Memory Moog, Mini Moog

LUPO: Gibson Les Paul Standard 80 (Heritage series), Fender Strat, Ovation 6 u. 12 saitige Akustik Gitarren, Hopf Grand Concerto, Mesa Boogie Mark 2, Music Man 212 HD 1000, Roland Stereo Chorus, Ernie Ball Saiten

 

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