Meine Meinung zu der CD (offizielle Rezi, die
ich für's Musikzirkus-Magazin geschrieben hab):
Die deutsche Band Grobschnitt ist
wahrlich ein Phänomen. 1970 aus den beiden Bands Wutpickel und Charing
Cross entstanden, feiert die Band im Jahr 2010 ihr 40jähriges Bestehen.
Auch wenn es die Gruppe einige Jahre nicht mehr aktiv gegeben hat, so
sorgten doch die Veröffentlichungen von Eroc und die Fans dafür, dass
die Musik der Band und auch die Musiker selbst in diesem Zeitraum nicht
vergessen wurden. Ganz im Gegenteil, denn die Liebe zu ihrer Musik wuchs
stetig.
Im Jahr 2007 gab es dann in einer
neuen Besetzung (der „Next Generation“) mit vier Originalmitgliedern
(Willi Wildschwein, Toni Moff Mollo, Milla Kapolke und Admiral Top
Sahne) sowie vier neuen Mitgliedern (Deva Tattva, Nuki Danielak, Manu
Kapolke und Demian Hache), darunter drei Söhnen der Musiker, ein
Wiedersehen auf den deutschen Bühnen. Der ungeahnte Erfolg, den die acht
Musiker - und nicht zu vergessen die vielen helfenden Hände am Rande der
Auftritte – seither haben, zeigt, wie zeitlos die Musik von Grobschnitt
war und ist. Die Folge war im Jahr 2008 ein Livemitschnitt in Form einer
CD unter dem Titel „Grobschnitt 2008 Live“.
Zum 40jährigen Jubiläum macht sich die
Band und den Fans das große Geschenk einer weiteren Live-CD. Das im Mai
2010 erscheinende Album heißt „Grobschnitt 2010 Live“ und beinhaltet die
Liveversion des kompletten Konzeptwerkes „Rockpommel’s Land“, das
erstmals in 2009 bei Konzerten in Hückeswagen und Hannover aufgeführt
und dort mitgeschnitten wurde. In dieser Form wird es auch bei den
Jubiläumskonzerten in 2010 live aufgeführt.
Es gibt Alben, die man vom ersten Ton
an liebt und solche, die man sich erst erarbeiten muss. Als die
Studioversion von „Rockpommel’s Land“, dem Konzeptalbum der
deutschen Rockgeschichte, 1977 herauskam, gehörte es sicher nicht zu den
Alben bei denen Liebe auf den ersten Blick angesagt war. Spätestens aber
bei den Konzerten entwickelte es seine ganze Faszination, was sicherlich
auch daran liegt, dass Grobschnitt von je her eine Liveband ist.
„Grobschnitt 2010 Live“ ist ein Album, das der Hörer aber sofort ins
Herz schließen und das ihn so schnell nicht wieder loslassen wird. Und
das, obwohl es „nur“ die moderne Liveeinspielung von „Rockpommel’s Land“
beinhaltet.
Das dieses Werk so zündet, liegt
daran, dass die „Next Generation“ das einstige, maßgeblich von Volker „Myst“
Kahrs (verstorbener ex-Keyboarder der Band) komponierte Konzeptwerk
durch eine leidenschaftliche und gefühlvolle Interpretation auf eine
neue, faszinierende Ebene gehoben hat. Hatte das Original aus 1977 schon
Suchtcharakter, so ist die Neueinspielung eine Offenbarung und bildet
einen Meilenstein in der deutschen und auch internationalen Rockmusik.
Das ursprünglich 45minütige Werk wurde
in der neuen Fassung auf 61 Minuten ausgeweitet. Neben einem komplett
neuen Intro spendierte die Band dem Stück weitere neue Passagen und ein
Outro und lässt einige Teile unter anderem durch Veränderung des Tempos
der Musik härter oder auch weicher erklingen, als im Original. Das macht
aus dem Klassiker der deutschen Rockmusik ein komplett neues Werk. Ganz
so wie ein Oldtimer, der Jahrelang im Hinterhof gestanden hat und nicht
bewegt wurde, einer Komplettüberholung unterzogen und auf Hochglanz
poliert wurde, so erstrahlt auch „Rockpommel’s Land“ in neuem Glanz.
Viele Nuancen wurden hinzugefügt, wie
ein fetterer Bass bei „Rockpommel’s Land“ oder die Klangfarbe der
Akustikgitarre in „Anywhere“. Sie lassen die Stücke frischer den je
erscheinen. Die Band ist dabei mit viel Liebe zum Detail und mit einer
gehörigen Portion Akribie ans Werk gegangen. Sie hat die Musik nicht
einfach live nachgespielt sondern in einer ganz eigenen Weise neu
interpretiert. Das Ergebnis ist eine Hommage an die Fans, die ehemaligen
sowie die derzeitigen Bandmitglieder und vor allem eine Verbeugung vor
dem leider viel zu früh gestorbenen Volker „Myst“ Kahrs, auf dessen
Konto der Hauptteil von Musik und Geschichte geht.
Großartig ist die soundtechnische
Umsetzung des Konzertes, das sowohl die Zuschauerreaktionen wie auch die
Musik perfekt miteinander verbindet, ohne dass Applaus oder Reaktionen
störend wirken. Die Magie der Konzerte spiegelt sich somit perfekt auf
der Aufnahme wider.
Mit Applaus des Publikums startet „Behind“,
der erste, 2:43minütige Teil des Intro’s, in dem die Band eine
Soundcollage auf den Hörer loslässt, bestehend aus Verkehrs- und
Jahrmarktlärm die in Hubschraubergeräusche und einer Explosion oder
Donner münden und die Hektik des Alltags widerspiegeln. In diesem „Lärm“
tauchen kleine Soundschnipsel auf, die der „Sinfonie“, „Illegal“ und
„Wir wollen sterben“ entnommen wurden. Dann setzt ein frischer Regen ein
und Wellenrauschen ist zu hören. Es entwickelt sich eine gewisse Stille
und Zufriedenheit, die auf den Übergang in die Phantasiewelt von „Rockpommel’s
Land“ vorbereitet. Der Geschichte vom kleinen Ernie, der nach einer
verhunzten Mathearbeit auf einem Papierflieger in die Phantasiewelt von
„Rockpommel’s Land“ reist und die Kinder und ihren väterlichen Freund
Mr. Glee befreit.
Vogelgezwitscher und eine sanfte
Melodie, die auf einer Akustikgitarre gespielt wird, zeichnen den
zweiten Teil des neuen Intros mit dem Titel „Before“ aus. Grobschnitt
entwickeln hier eine ähnliche Atmosphäre, wie man es von Frankie Goes To
Hollywood in ihrem Stück „Welcome To The Pleasure Dome“ vollbrachten.
Motive aus dem Album werden hier in sanfter Form vorgestellt und
entwickeln sich - sobald Willy hochzählt -, zu einem Energie geladenen
Eingangsopus, der die ganze Kraft des Grobschnittsounds in sich vereint.
Ein mitreißender Beginn, der auf Fast sechs Minuten das Album schon mal
in einer unglaublichen Frische zusammenfasst und beim Hörer eine
Gänsehaut erzeugt, die sich auch die nächste Stunde des Öfteren
einstellen wird.
Und dann geht es mit „Ernie’s Reise“
in das Monumentalwerk und die hypnotische Wirkung des Albums macht sich
schlagartig breit. Vom ersten Ton an zeigt sich, welch zeitloses Werk
die Hagener Band da in den 70’ern komponierten. Mit dem bekannten
lieblichen Glockenspiel geht es dann in „Severity Town“ über. Und auch
hier haben die Hagener an einigen Stellen Nuancen verändert, die das
Stück ein neues Gesicht verleihen, ohne die Essenz und Seele des Werkes
zu verändern. Und genau das liebe ich an Neu- bzw. Liveinterpretationen,
bei denen das Original nicht einfach eins zu eins nachgespielt wird,
sondern durch eigene Variationen ein lebendiges neues Stück entsteht. Im
Mittelteil ist hier eine erweiterte Straßenszene zu hören, die mit
reichlich Straßenlärm und einem Unfall noch mal die Hektik der Stadt
zeigt. Wer schon das Vergnügen hatte, dies live erleben zu dürfen, sieht
bei dieser Szene sofort die Autofahrer, den Schutzmann und die auf die
Bühne fliegenden Reifen vor seinem geistigen Auge.
Es folgt die immer schon unter die
Haut gehende Ballade „Anywhere“. In dieser Fassung wird sie aber noch
mal um einiges hinreißender vorgetragen. Erwähnenswert ist hier die an
eine Steelguitar erinnernde Akustikgitarre sowie Willy’s
leidenschaftlicher Gesang. Dann kommt mit „Stoney Dance“ ein cooles
Zwischenspiel, bei dem auf der Bühne die Steinmenschen einen Tanz
vollführen. Das ganze ist äußerst rhythmisch, bombastisch und
bedrohlich, aber auch zugleich humorvoll angelegt. Bei diesen Klängen
kommen auch sofort wieder die Bilder der Liveshow in Erinnerung.
Nach dem Auftritt der Steinmenschen
geht es dann in das große, fast 22minütige Finale von „Rockpommel’s
Land“, bei dem die Band noch mal alle Register zieht. Sehr schön ist die
neue Perkussion-Passage, bei der Demian auf einer Trommel über die Bühne
marschiert. Eigentlich ist nach dem Finale Schluss, doch Grobschnitt
haben sich noch ein Bonbon für den Schluss aufgehoben. Mit „Beyond“
platzieren sie ein dreiminütiges, traumhaftes Outro ans Ende des Albums,
das noch einmal eine melancholische, herzzerreißende Atmosphäre aufbaut.
Die Stimmung vom Anfang wird hier noch einmal aufgenommen und endet in
einer Szenerie aus „Lärm“, Vogelzwitscher und Wellenrauschen, die den
Hörer wieder sanft in die Realität zurücklässt. Die Geschichte ist
erzählt, die Lieder gesungen und das Licht geht aus.
Grobschnitt haben mit der modernen
Interpretation von „Rockpommel’s Land“ ein Meisterwerk der deutschen
Rockgeschichte in ein neues Zeitalter transportiert. Die Besucher bei
den beiden Aufführungen in Hückeswagen und Hannover waren begeistert,
doch diese Aufnahme wird die Freude der Musikfreunde im In – und Ausland
noch einmal toppen. Klanglich, wie auch musikalisch ist dieses Album ein
Highlight geworden. Ich empfehle die CD einmal über eine Surroundanlage
oder einen Kopfhörer anzuhören, denn dann entwickelt das Album eine
ungeheure Transparenz und Räumlichkeit. Ergänzt wird diese CD durch ein
liebevoll gestaltetes, sehr schönes 32seitiges Booklet, das Linernotes,
die Geschichte, Songtexte und zahlreiche Livebilder enthält.
Für mich ist dieses Album das Beste,
was ich in der letzten Zeit gehört habe. Die Band hat sich seit
„Grobschnitt 2008 Live“ noch einmal gesteigert. Ausnahmslos alle Akteure
sind noch mal über sich hinausgewachsen und setzen ihrem 77’er
Konzeptwerk ein würdiges Denkmal. Auch nach dem zehnten Hören stellt
sich noch eine Gänsehaut ein und man ist geneigt nach dem letzten Ton
die Repeat-Taste zu drücken. Es gibt nur wenige Werke, die dieses
schaffen, „Grobschnitt 2010 Live“ gehört zweifelsohne dazu.
Stephan Schelle, Mai 2010