Die letzten Geheimnisse der Grobschnitt-Welt - endlich
geklärt?
Da fliegen die Fetzen und der Marabu,
die Funken sprühen, es kracht und knallt - Bombenstimmung auf und vor
der Bühne. Keine Frage: „Grobschnitt“ rockten den Saal zu Olsberg auch
im November des Jahres 2010 wie schon zwei Jahre zuvor. Die Stimmung bei
Band und Publikum hatte bei all der Feierlaune etwas Magisches an sich,
und, obwohl schon viele versucht haben, dies einzigartige Phänomen der
deutschen Rockszene zu erklären oder zu analysieren, so versagten doch
meist die Worte. Selbst die hardcorigsten der langjährigen Fans dieser
Gruppe, die bereits ungezählte Konzerte und selbst von der aktuellen
Show bereits nahezu alle Aufführungen erlebt haben, stehen oft mit
offenen Mündern, klopfenden Herzen und sprachlos vor der aufregenden
Melange aus virtuos gespieltem, progressivem Rock, einer Bühnenshow, die
von quirlig-verrückt bis träumerisch-poetisch alle Gefühlsebenen
anspricht und Auge und Ohr gleichermaßen verwöhnt. Und da machte eben
jener Auftritt in Olsberg im kalten November keine Ausnahme - in den
Herzen wird’s warm, denn schließlich war das das vorgezogene
Weihnachtskonzert.
Wie gesagt: Analysten haben einen
schweren Stand angesichts dieses tobenden Feuerwerks aus Tönen, Nebel
und Farben.
Ein außergewöhnlich gut gelaunter
Willi Wildschwein, Frontmann und Urgestein der Band, plauderte diesmal
höchst locker aus dem Nähkästchen und enthüllte endlich den Ursprung des
ausufernden Klassikers „Solar Music“: in den dunklen Jahren nach dem
Krieg, als er mal wieder hungrig ins Bett steigen musste, da setzte sich
seine Mutter zu ihm. Mit einer zarten Melodie sang sie den kleinen Willi
in den Schlaf - und jenes leise, gehauchte „Wobbedidadaa!“ sollte später
ein klassisches Thema in der deutschen Rockmusik werden.
Mit solchen augenzwinkernden
Geschichten beweisen „Grobschnitt“ auch im aktuellen Jahrtausend, dass
Humor heute noch eine wichtige Quelle der Power ist, die sie
rüberbringen. Dabei ist die Band weit mehr als eine Spaßtruppe: die
Musik ist bis in die kleinsten Nuancen hin ausgefeilt, lässt den
Solisten aber auch immer genügend Raum für Improvisation. Gerade in
„Sonnentanz“, der höchst lebendigen Inkarnation von „Solar Music“, wird
dies immer wieder deutlich - vom zarten Wiegenlied bis zur ausufernden
Rocksession bietet das Meisterstück der Gruppe alles, was das Herz der
Fans begehrt - und da machte die diesjährige Olsberg-Variante keine
Ausnahme:
Die Soli der Gitarristen Nuki Danielak
und Manu Kapolke jagten im Saitenspiel durch alle Schattierungen
möglicher Klangfarben: ob nun spacig-psychedelisch, rockig fetzend oder
mit folkigen Akustikeinsprengseln, ob nun melodiöse Power oder
melancholischer Groove - es waren in jedem Falle positive Vibrations,
die da aus den Boxen tönten. Bei aller Virtuosität geht das Feeling nie
verloren. Auch Milla Kapolke, Mr. Bassmann im Bunde, zeigt nicht nur in
seinem effektreichen Solo, was man aus diesen vier dicken Saiten des
Instruments so alles rausholen kann. Auch im Zusammenspiel mit der
Gruppe befreit er den Bass aus der Rolle als Teil der Rhythmusgruppe:
wie schon weiland Chris Squire von „Yes“ ist das hier ein höchst
vielschichtiger Tieftöner, der nicht nur ein Fundament für die Rhythmik,
sondern ebenfalls wichtiger Bestandteil für die vielstimmige Melodik des
Gruppensounds darstellt.
Apropos „Vielstimmigkeit“: der
mehrstimmige Gesang ist ein Merkmal des „Grobschnitt“-Sounds, der
gemeinhin zu wenig Beachtung findet: ob nun Toni Moff Mollo, Willi
Wildschwein oder Milla Kapolke ihre Soloparts mit gewohnter Souveränität
intonieren oder mit Unterstützung von Manu Kapolke und Nuki Danielak im
Chor erklingen - die Vokalharmonien sind höchst integraler Bestandteil
des Gruppenklangs und ein nicht zu unterschätzendes Stilmerkmal. Und
gerade, wenn Willi und Toni in „Solar Music“ mit ihrem Wechselgesang
Funkenregen und Sonnengott heraufbeschwören, hatte das auch diesmal
wieder Gänsehautgarantie.
In diesen, schön sphärisch-gruselig
gehaltenen Passagen, ist gerade auch Deva Tattvas Keyboardspiel
besonders wichtig: er baut Klangkulissen auf, als ginge es darum, einen
Monumentalfilm mit dem adäquaten Soundtrack zu bespaßen - nur, um dann
in „Wir sind die Sonne“ mit flockigen Piano-Stakkatos fröhliches Flair
zu verbreiten. Besonders auffällig bei diesem Auftritt waren die im
schönsten 70er-Style kratzenden Hammondsounds in jenem Teil des
Sonnentanzes, in dem die Band seit einiger Zeit Anklänge an den
Frühtagen der „Solar Music“ einfließen lässt.
Bevor aber alle Musiker und Zuhörer
endgültig in solchen klanglichen Psychotrips abheben, holen die beiden
Schlagwerker Demian Hache und der Admiral Top Sahne, alle wieder auf den
Boden der Tatsachen zurück: mit einem Trommelgewitter der ekstatischen
Art treiben sie das Stück unaufhaltsam vorwärts. Überhaupt ist die
Arbeit dieser beiden Trommler weit mehr als nur rhythmische Basis. Beide
sind nicht nur versiert, sondern auch höchst verspielt. Während Admiral
Top Sahne eher für die treibenden, gewaltigen Elemente verantwortlich
zeichnet, ist Demian eher für die geschmeidigen, melodieorientierten
Anteile zuständig. Gemeinsam sind sie unschlagbar, das machte der Abend
in Olsberg wieder einmal deutlich.
Die optischen Einlagen, für die Tonis
Lightshow den geschmackvollen Rahmen liefert, tragen natürlich nicht
unwesentlich zur Faszination dieses Spektakels bei: Nebelwarnung also
auch in der Halle, Funkenfontänen, Feuerwerk, Laserschwerter und
Leuchtfarben - selbst, wer es gesehen hat, glaubt manchmal, es wäre ein
Film im Kopf gewesen. Was die grobschnittigen Fantasy-Happenings aber
von durchgestylten Shows anderer Bühnenzauberer abhebt, ist, dass immer
auch ein Augenzwinkern zu spüren ist. Willi, dem an diesem Abend
eindeutig der Schalk im Nacken saß, gab bei einer düsteren
Keyboardpassage via Megaphon zum Besten: „Achtung, Achtung! Die Kinder
haben nun Badeschluss! Bitte das Papier einsammeln!“ Man stelle sich mal
Roger Waters’ Gesicht vor, wenn einer seiner Musiker solch einen Gag
zwischen „Comfortably Numb“ und „Mother“ brächte … aber die Groben sind
halt nicht „Pink Floyd“ … und das ist hier im positiven Sinne gemeint.
Wenn „Solar Music“ dann endlich seinem
atemberaubenden Finale entgegenpeitscht, kann man es kaum fassen: das
war fast eine Stunde höchst intensiver Erfahrung von Musik und Show
gewesen! Gefühlte Zeit: höchstens 20 Minuten - und das war ja nur ein
Musikstück an diesem langen, aber nicht -weiligen Abend … kann es eine
bessere Erklärung für das Wort „kurzweilig“ geben?
Frenetischer Applaus brandet auf - die
Band kommt zu einem Zugabenset auf die Bühne, Willi stellt Musiker und
die Crew vor - und enthüllt gleich noch ein Geheimnis aus der
Grobschnittwelt: sollte sein Sohn Nuki in Zukunft nicht mehr ganz so
flott spielen, liegt das dann wohl daran, dass er bald Kinderwagen
schieben muss - herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle!
Hinter der Bühne ist man auch
konzentriert!!!
„Powerplay“ macht seinem Namen auch
diesmal wieder alle Ehre - um etwas runter zu kommen, wird es aber auch
noch einmal elegisch: das legendäre Wikingerfinale erklingt und die Show
ist vorbei. Minutenlang feiert das Publikum ihre Band, lässt die
versammelte Mannschaft nicht von der Bühne. Selbst die Verlockung einer
After-Show-Party hält weder Zuschauer noch Künstler davon ab, sich
gegenseitig zu feiern.
Ende gut, alles gut? Man beachte
bitte: diese Rezension hat bislang nur das letzte Drittel des Konzerts
besprochen: „Solar Music“ und den Zugabenteil.
Auch im vierzigsten Jahr ihres
Bestehens sprengt diese Gruppe einfach jeden Rahmen: nach wie vor ist
jede Show mindestens drei Stunden lang und die Zuhörer nehmen soviel an
Impressionen aller Art mit nach Hause, dass man es eh nicht in solch
eine Rezi packen kann … daher hier noch einige kürzere Anmerkungen:
„Rockpommel’s Land“, die märchenhafte
Oper um Klein Ernie und den Zaubervogel Marabu, anlässlich des
Jubiläumsjahres in einer extended Version von etwa einer Stunde Länge,
ist nicht umsonst ein Klassiker der deutschen Rockmusik: übereinstimmend
berichten viele Fans, die diese Fassung bereits einige Male gehört
haben, dass es nicht nur keine Langeweile gäbe, sondern das gesamte Opus
von Mal zu Mal kürzer wirke … und das, obwohl die Band es dem Zuhörer
hier nicht leicht macht: lange, ausufernde Stücke, höchst diffizile
Melodien und Arrangements - aber eben mit einem ganz eigenen,
charakteristischen Charme - „Grobschnitt“ eben. Wenn das Finale des
Rockmärchens verklungen ist, tobt ein Hurrikan von Applaus auf - die
Pause wird so euphorisch eingeläutet, wie anderswo nicht mal der
Zugabenteil.
Nachdem die Zuhörer ihre Pinkelexzesse
beendet haben und Versorgung mit weiteren Getränken gegen die
Dehydrierung gesichert ist, rockt die Band dann in bester Partystimmung
los - „Razzia - Illegal - Mary Green“: auch in Olsberg löst dieses
powergetränkte Medley wilde Feierstimmung aus: ausgelassenes
Mitklatschen und -singen sowie Abtanzen ist angesagt. Danach noch ein
Kleinod: das träumerische Instrumental „Silent Movie“ - und dann „Könige
der Welt“. Diese weltmusikalisch angehauchte Öko-Ballade stimmt mit dem
brillanten Gitarrensolo am Ende bereits auf das ein, was noch kommen
wird: „Solar Music“. Und damit schließt sich der Kreis - aber selbst,
wenn Willi einiges in seiner Plauderlaune offenbart hat: es gibt noch
einiges in der Grobschnittwelt zu entdecken und die letzten Geheimnisse
sind noch nicht gelöst. Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass dieses
Konzert nicht, wie ursprünglich geplant“ das Ende der „Rockpommel’s Land
Tour“ markierte, sondern auch 2011 noch einige Gigs folgen werden! Und
da gibt es nur eins: hingehen!
Text: Günther Klößinger, 16.11.2010
Fotos: Stephan Schelle
Vorglühen und Aftershow-Party
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