Live Olsberg 13.11.2010


Die letzten Geheimnisse der Grobschnitt-Welt - endlich geklärt?

    

Da fliegen die Fetzen und der Marabu, die Funken sprühen, es kracht und knallt - Bombenstimmung auf und vor der Bühne. Keine Frage: „Grobschnitt“ rockten den Saal zu Olsberg auch im November des Jahres 2010 wie schon zwei Jahre zuvor. Die Stimmung bei Band und Publikum hatte bei all der Feierlaune etwas Magisches an sich, und, obwohl schon viele versucht haben, dies einzigartige Phänomen der deutschen Rockszene zu erklären oder zu analysieren, so versagten doch meist die Worte. Selbst die hardcorigsten der langjährigen Fans dieser Gruppe, die bereits ungezählte Konzerte und selbst von der aktuellen Show bereits nahezu alle Aufführungen erlebt haben, stehen oft mit offenen Mündern, klopfenden Herzen und sprachlos vor der aufregenden Melange aus virtuos gespieltem, progressivem Rock, einer Bühnenshow, die von quirlig-verrückt bis träumerisch-poetisch alle Gefühlsebenen anspricht und Auge und Ohr gleichermaßen verwöhnt. Und da machte eben jener Auftritt in Olsberg im kalten November keine Ausnahme - in den Herzen wird’s warm, denn schließlich war das das vorgezogene Weihnachtskonzert.

     

Wie gesagt: Analysten haben einen schweren Stand angesichts dieses tobenden Feuerwerks aus Tönen, Nebel und Farben.

Ein außergewöhnlich gut gelaunter Willi Wildschwein, Frontmann und Urgestein der Band, plauderte diesmal höchst locker aus dem Nähkästchen und enthüllte endlich den Ursprung des ausufernden Klassikers „Solar Music“: in den dunklen Jahren nach dem Krieg, als er mal wieder hungrig ins Bett steigen musste, da setzte sich seine Mutter zu ihm. Mit einer zarten Melodie sang sie den kleinen Willi in den Schlaf - und jenes leise, gehauchte „Wobbedidadaa!“ sollte später ein klassisches Thema in der deutschen Rockmusik werden.

    

    

Mit solchen augenzwinkernden Geschichten beweisen „Grobschnitt“ auch im aktuellen Jahrtausend, dass Humor heute noch eine wichtige Quelle der Power ist, die sie rüberbringen. Dabei ist die Band weit mehr als eine Spaßtruppe: die Musik ist bis in die kleinsten Nuancen hin ausgefeilt, lässt den Solisten aber auch immer genügend Raum für Improvisation. Gerade in „Sonnentanz“, der höchst lebendigen Inkarnation von „Solar Music“, wird dies immer wieder deutlich - vom zarten Wiegenlied bis zur ausufernden Rocksession bietet das Meisterstück der Gruppe alles, was das Herz der Fans begehrt - und da machte die diesjährige Olsberg-Variante keine Ausnahme:

                   

Die Soli der Gitarristen Nuki Danielak und Manu Kapolke jagten im Saitenspiel durch alle Schattierungen möglicher Klangfarben: ob nun spacig-psychedelisch, rockig fetzend oder mit folkigen Akustikeinsprengseln, ob nun melodiöse Power oder melancholischer Groove - es waren in jedem Falle positive Vibrations, die da aus den Boxen tönten. Bei aller Virtuosität geht das Feeling nie verloren. Auch Milla Kapolke, Mr. Bassmann im Bunde, zeigt nicht nur in seinem effektreichen Solo, was man aus diesen vier dicken Saiten des Instruments so alles rausholen kann. Auch im Zusammenspiel mit der Gruppe befreit er den Bass aus der Rolle als Teil der Rhythmusgruppe: wie schon weiland Chris Squire von „Yes“ ist das hier ein höchst vielschichtiger Tieftöner, der nicht nur ein Fundament für die Rhythmik, sondern ebenfalls wichtiger Bestandteil für die vielstimmige Melodik des Gruppensounds darstellt.

    

    

Apropos „Vielstimmigkeit“: der mehrstimmige Gesang ist ein Merkmal des „Grobschnitt“-Sounds, der gemeinhin zu wenig Beachtung findet: ob nun Toni Moff Mollo, Willi Wildschwein oder Milla Kapolke ihre Soloparts mit gewohnter Souveränität  intonieren oder mit Unterstützung von Manu Kapolke und Nuki Danielak im Chor erklingen - die Vokalharmonien sind höchst integraler Bestandteil des Gruppenklangs und ein nicht zu unterschätzendes Stilmerkmal. Und gerade, wenn Willi und Toni in „Solar Music“ mit ihrem Wechselgesang Funkenregen und Sonnengott heraufbeschwören, hatte das auch diesmal wieder Gänsehautgarantie.

    

In diesen, schön sphärisch-gruselig gehaltenen Passagen, ist gerade auch Deva Tattvas Keyboardspiel besonders wichtig: er baut Klangkulissen auf, als ginge es darum, einen Monumentalfilm mit dem adäquaten Soundtrack zu bespaßen - nur, um dann in „Wir sind die Sonne“ mit flockigen Piano-Stakkatos fröhliches Flair zu verbreiten. Besonders auffällig bei diesem Auftritt waren die im schönsten 70er-Style kratzenden Hammondsounds in jenem Teil des Sonnentanzes, in dem die Band seit einiger Zeit Anklänge an den Frühtagen der „Solar Music“ einfließen lässt.

                   

Bevor aber alle Musiker und Zuhörer endgültig in solchen klanglichen Psychotrips abheben, holen die beiden Schlagwerker Demian Hache und der Admiral Top Sahne, alle wieder auf den Boden der Tatsachen zurück: mit einem Trommelgewitter der ekstatischen Art treiben sie das Stück unaufhaltsam vorwärts. Überhaupt ist die Arbeit dieser beiden Trommler weit mehr als nur rhythmische Basis. Beide sind nicht nur versiert, sondern auch höchst verspielt. Während Admiral Top Sahne eher für die treibenden, gewaltigen Elemente verantwortlich zeichnet, ist Demian eher für die geschmeidigen, melodieorientierten Anteile zuständig. Gemeinsam sind sie unschlagbar, das machte der Abend in Olsberg wieder einmal deutlich.

    

Die optischen Einlagen, für die Tonis Lightshow den geschmackvollen Rahmen liefert, tragen  natürlich nicht unwesentlich zur Faszination dieses Spektakels bei: Nebelwarnung also auch in der Halle, Funkenfontänen, Feuerwerk, Laserschwerter und Leuchtfarben - selbst, wer es gesehen hat, glaubt manchmal, es wäre ein Film im Kopf gewesen. Was die grobschnittigen Fantasy-Happenings aber von durchgestylten Shows anderer Bühnenzauberer abhebt, ist, dass immer auch ein Augenzwinkern zu spüren ist. Willi, dem an diesem Abend eindeutig der Schalk im Nacken saß, gab bei einer düsteren Keyboardpassage via Megaphon zum Besten: „Achtung, Achtung! Die Kinder haben nun Badeschluss! Bitte das Papier einsammeln!“ Man stelle sich mal Roger Waters’ Gesicht vor, wenn einer seiner Musiker solch einen Gag zwischen „Comfortably Numb“ und „Mother“ brächte … aber die Groben sind halt nicht „Pink Floyd“ … und das ist hier im positiven Sinne gemeint.

                   

    

Wenn „Solar Music“ dann endlich seinem atemberaubenden Finale entgegenpeitscht, kann man es kaum fassen: das war fast eine Stunde höchst intensiver Erfahrung von Musik und Show gewesen! Gefühlte Zeit: höchstens 20 Minuten - und das war ja nur ein Musikstück an diesem langen, aber nicht -weiligen Abend … kann es eine bessere Erklärung für das Wort „kurzweilig“ geben?

    

Frenetischer Applaus brandet auf - die Band kommt zu einem Zugabenset auf die Bühne, Willi stellt Musiker und die Crew vor - und enthüllt gleich noch ein Geheimnis aus der Grobschnittwelt: sollte sein Sohn Nuki in Zukunft nicht mehr ganz so flott spielen, liegt das dann wohl daran, dass er bald Kinderwagen schieben muss - herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle!

                   
Hinter der Bühne ist man auch konzentriert!!!

„Powerplay“ macht seinem Namen auch diesmal wieder alle Ehre - um etwas runter zu kommen, wird es aber auch noch einmal elegisch: das legendäre Wikingerfinale erklingt und die Show ist vorbei. Minutenlang feiert das Publikum ihre Band, lässt die versammelte Mannschaft nicht von der Bühne. Selbst die Verlockung einer After-Show-Party hält weder Zuschauer noch Künstler davon ab, sich gegenseitig zu feiern.

     

Ende gut, alles gut? Man beachte bitte: diese Rezension hat bislang nur das letzte Drittel des Konzerts besprochen: „Solar Music“ und den Zugabenteil.

    

Auch im vierzigsten Jahr ihres Bestehens sprengt diese Gruppe einfach jeden Rahmen: nach wie vor ist jede Show mindestens drei Stunden lang und die Zuhörer nehmen soviel an Impressionen aller Art mit nach Hause, dass man es eh nicht in solch eine Rezi packen kann … daher hier noch einige kürzere Anmerkungen:

    

„Rockpommel’s Land“, die märchenhafte Oper um Klein Ernie und den Zaubervogel Marabu, anlässlich des Jubiläumsjahres in einer extended Version von etwa einer Stunde Länge, ist nicht umsonst ein Klassiker der deutschen Rockmusik: übereinstimmend berichten viele Fans, die diese Fassung bereits einige Male gehört haben, dass es nicht nur keine Langeweile gäbe, sondern das gesamte Opus von Mal zu Mal kürzer wirke … und das, obwohl die Band es dem Zuhörer hier nicht leicht macht: lange, ausufernde Stücke, höchst diffizile Melodien und Arrangements - aber eben mit einem ganz eigenen, charakteristischen Charme - „Grobschnitt“ eben. Wenn das Finale des Rockmärchens verklungen ist, tobt ein Hurrikan von Applaus auf - die Pause wird so euphorisch eingeläutet, wie anderswo nicht mal der Zugabenteil.

    

Nachdem die Zuhörer ihre Pinkelexzesse beendet haben   und Versorgung mit weiteren Getränken gegen die Dehydrierung gesichert ist, rockt die Band dann in bester Partystimmung los - „Razzia - Illegal - Mary Green“: auch in Olsberg löst dieses powergetränkte Medley wilde Feierstimmung aus: ausgelassenes Mitklatschen und -singen sowie Abtanzen ist angesagt. Danach noch ein Kleinod: das träumerische Instrumental „Silent Movie“ - und dann „Könige der Welt“. Diese weltmusikalisch angehauchte Öko-Ballade stimmt mit dem brillanten Gitarrensolo am Ende bereits auf das ein, was noch kommen wird: „Solar Music“. Und damit schließt sich der Kreis - aber selbst, wenn Willi einiges in seiner Plauderlaune offenbart hat: es gibt noch einiges in der Grobschnittwelt zu entdecken und die letzten Geheimnisse sind noch nicht gelöst. Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass dieses Konzert nicht, wie ursprünglich geplant“ das Ende der „Rockpommel’s Land Tour“ markierte, sondern auch 2011 noch einige Gigs folgen werden! Und da gibt es nur eins: hingehen!

    

Text: Günther Klößinger, 16.11.2010

Fotos: Stephan Schelle

Vorglühen und Aftershow-Party