„Grobschnitt“ im
Bonner Brückenforum am 07.05.2010 - eine persönliche Betrachtung
„Manchmal ist mir, gestern war's, und
manchmal wia a Ewigkeit - und manchmal hob i Angst, es war a Traum!“
sang, wie gewohnt, ein kleiner Chor in alpenländischem Timbre Hubert von
Goiserns herzig-schmerzliche Ballade „Weit, weit weg“ gegen Ende des
Grobschnitt-Vorprogramms. Was da als Einstimmung von Konserve aus den
Boxen erklingt, ist vielen Fans mittlerweile so vertraut wie die
ungebrochene Livepräsenz der Hagener Rockzauberer von „Grobschnitt“
selbst - doch zum ersten Mal klangen diese Zeilen für mich wie ein Motto
für alles das, was die Fans dieser unglaublichen Gruppe in den
vergangenen Jahren erlebten und noch immer erleben: eine Tour de force
zwischen Traum und Wirklichkeit, durch Vergangenheit und Gegenwart. Und
die Ewigkeit? Ab dafür!
Das Brückenforum in Bonn brach nahezu
aus allen Nähten, das Publikum drängte sich vor der imposanten Bühne und
trotz der beengten Schwüle lag eine relaxte, von Vorfreude getragene
Stimmung in der dunstigen Luft. Zeitig startete von Konserve die
skurrile Einstimmung, mit der die Gruppe jeweils die angereisten Fans
begrüßt. „Business as usual.“ dachte ich mir, aber natürlich mit einem
wohlwollenden Grinsen, denn natürlich gehört das Vorprogramm mit zum
Ritual. Doch gingen mir diesmal eben die zitierten Zeilen nicht mehr aus
dem Sinn und das ganze Konzert über spukten Melodie und Text mir durch
den Kopf:
„Manchmal ist mir, gestern war's.“
Als nach der persönlichen Begrüßung
des Publikums durch Willi Wildschwein und Milla Kapolke, das
musikalische Märchen „Rockpommel's Land“ aufgeführt wird, bin ich sofort
drin in dieser sympathischen, verträumten Story um den kleinen Ernie,
der nach einer missglückten Mathearbeit auf einem Papierflieger in eine
Fantasywelt fliegt und dort den bärbeißigen, aber herzlichen Zaubervogel
Marabu trifft. Aber nicht alles ist zauberhaft im Märchenland: die bösen
Blackshirts haben die Macht übernommen und die Kinder nebst ihrem
väterlichen Freund Mr. Glee eingebunkert. Marabu überlässt Ernie eine
magische Feder, mit deren Hilfe er die Blackshirts in gruselige
Steinwesen verwandeln kann und, wie sich das für ein Märchen gehört,
wird alles gut: die früheren Blackshirts tanzen taumelnd mit steinigen
Armen, Beinen und Hirnen machtlos durch steinige Wüsten während die
Kinder und Mr. Glee befreit werden - und „Rockpommel's Land“ ist frei
von Hass.
Die Umsetzung dieser poetischen
Geschichte ist musikalisch so mitreißend, dass man ihr die über 30 Jahre
ihrer Existenz nicht anmerkt - und es ist mir fast wie gestern, als ich
mir anno ’84 die originale LP bei meinem ersten „Grobschnitt“-Konzert
kaufte. Dieses Werk begleitet mich seitdem ständig durch das Leben -
aber wie kommt es im Bonner Brückenforum herüber?
Von Anfang an macht die Band deutlich,
dass es ihr nicht um eine nostalgische Zeitreise in die Vergangenheit
geht - ein eigenes Intro wurde für die aktuelle Show komponiert, das
Werk erstrahlt in neuen Arrangements, die völlig auf der Höhe der Zeit
sind. Die Jahre, seitdem ich das Stück erstmals gehört hatte, sind
bedeutungslos, denn da steht eine ungeheuer frisch und jung klingende
Gruppe auf der Bühne und zelebriert ein schwungvolles Gesamtkunstwerk
aus Musik, Licht und Showelementen, das auch heute noch seinesgleichen
sucht. Die acht Musiker und die hart arbeitende Roadcrew - Techniker und
Schauspieler gleichermaßen, reproduzieren da nicht eine verstaubte
Oldie-Ikone, hier lebt und atmet jeder Ton, jeder Lichteffekt und jeder
Auftritt von Ernie, den Steinwesen oder dem Marabu die Luft des Moments.
Der Sound ist dicht, das Zusammenspiel
der Band locker und hochkonzentriert zugleich und szenische Umsetzungen
von Inhalten der Story werden mit bewundernden „Aaaaaahs“ aus dem
Publikum und Sonderapplaus bedacht. Da richten Comic-Autos auf den
Straßen von „Severity Town“ ein Verkehrschaos an, und als der
unvermeidliche Crash nach den aufbauenden Worten „He, mach schneller Du
Ochse!“ eines Verkehrsteilnehmers erklingt, fliegen Reifen auf die
Bühne. Die in Stoney Men verwandelten Blackshirts werden von einem
trommelnden Ernie zum Tanzen in die Wüste geschickt und natürlich dürfen
Partyböller und Luftschlangen zur Befreiung der Kinder nicht fehlen -
und kurz vor dem emotionalen Finale gibt sich selbstverständlich auch
der Marabu persönlich die Ehre.
Altvertraut und doch immer wieder neu:
„Rockpommel's Land“ ist heute wie gestern ein Fest für alle Sinne - Hut
ab vor der Band, die diesem Stoff so viel Druck verleiht und ihn den
ewigen CD-Gründen entrissen hat, um das Märchen heute wieder live
erfahrbar zu machen.
„.und manchmal wia a Ewigkeit.“
Natürlich schwingen für Fans wie mich
viele Erinnerungen an einem solchen Abend mit und man darf gar nicht
daran denken, wie lange es schon her ist, dass man diese Musik zum
ersten Mal gehört hat. Doch für das frische Spiel dieser
generationenübergreifenden Band gibt es nur eine zutreffende
Beschreibung: „zeitlos“. Die Phantasiewelt des Rockmärchens der ersten
Konzerthälfte wird im zweiten Teil des Auftritts von ebenso gestern wie
heute brisanten, und noch immer aktuellen Themen getragen: „Razzia -
Illegal - Mary Green“ düstere Polizeichargen, Blaulichter und Sirenen
zeigen, dass es auch hier und jetzt noch Blackshirts gibt, nicht nur in
einem fernen Traumland und die Message könnte lauten: „Severity Town ist
überall!“ Auch im Ton ändert sich die Musik: vor der Pause vermittelten
feinsinnige Melodien eine zart flirrende Märchenathmosphäre - nach
Träumen und Schwelgen ist nun erst mal „Abrocken bis zum Abwinken“
angesagt. Dieses treibende Medley hinterlässt Band und Publikum
gleichermaßen atemlos - daher erst mal abkühlen mit dem unsterblichen „Silent
Movie“, bevor die eindringliche Öko-Ballade „Könige der Welt“
auffordert, angesichts einer kalten, Umwelt verachtenden Welt das
Unmögliche zu wagen: „Der Mond ist tot, komm heb ihn auf! Wir hängen ihn
zurück!“ Die starken Emotionen des Liedes sind in jedem Ton spürbar und
die Soli der Gitarristen fließen aus deren Fingern über die gewaltige
Schallkulisse direkt in die Herzen der Zuhörer.
Und dann ist es auch schon Zeit für
den ewigen Klassiker der Groben: „Solar Music“ - der Text dieses
brachialen Monumentalepos beschreibt zunächst auch eine düstere Zukunft:
Die Welt explodiert und alles versinkt im Dunkel. Doch auch hier führt
der Kampf zwischen gut und Böse letztlich wieder ins Licht.
Fast 50 Minuten lang ist dieses
aufregende Werk, ohne auch nur eine Minute Langeweile zu produzieren.
Solistisch ziehen alle Beteiligten sämtliche Register und emotional wird
ein buntes Feuerwerk abgebrannt. Die Gefühlswelten der Zuhörer
entsprechen den Soundgemälden und der atemberaubenden Bühnenshow aus
Pyro, Licht und Kostümen.
Da werden so viele positive Vibrations
(wer im Bereich einer Bassbox stand, weiß, was ich meine.) erzeugt, dass
auch hier, wie schon in „Rockpommel's Land“, alles gut werden muss: das
Licht wird wieder gefunden und der Aufbruch in eine bessere Welt wird
mit einem Klanggewitter aus wilden Gitarrenläufen, donnernden Breaks und
knallig-warmen Bässen abgefeiert.
Dieses Stück deutscher Rockgeschichte
hat wahrhaftig schon eine ewige Geschichte auf dem Buckel - entstammt
die Grundidee doch einer Improvisation der Schülerband „The Crew“ aus
dem Jahre 1968 - und just aus dieser Combo sollte schließlich
„Grobschnitt entstehen. Und dieses lange Stück wurde zum unglaublichsten
Hit der Rockgeschichte: nicht nur, dass Fans immer wieder lautstark
einen Titel fordern, der zwischen 30 und 59 Minuten lang ist - nein, das
Magnum Opus veränderte sich durch all diese Jahre immer wieder und auch
heute noch wird es nie zweimal identisch gespielt. Im Jubiläumsjahr -
die „Groben“ feiern ja das 40jährige Bühnenjubiläum, ist auch ein
Zeitfenster integriert, in dem auch frühe Klänge und Sounds aus der
solarigen Urzeit reaktiviert werden.
Und auch als nach dem gewaltigen
Schlussakkord der tosende Applaus das Brückenforum zur brodelnden
Hexenküche mutieren lässt, ist noch nicht Schluss mit „Solar Music“:
Denn im Zugabenteil erklingt zunächst
ein Auszug aus „Powerplay“, wie „Solar Music“ Anfang der 80er Jahre auch
hieß - und dann betrat schließlich wieder jenes unheimliche Wesen mit
Totenschädel und Wikingerhelm die Bühne, um zu den elegischen Klängen
der Fassung aus den 70ern ein brennendes Kreuz auf der Bühne
niederzulegen - das Ritual ist beendet - das Publikum aus dem Häuschen.
Die „Zugabe, Zugabe“-Rufe wollen kaum enden. Es ist, als hätte es diese
Musik schon immer gegeben und als wollte die Magie dieser Klänge nie
enden - Musik für die Ewigkeit.
„.und manchmal hob i Angst, es war a
Traum!“
Hoppla - ging da nicht das Pathos mit
dem Autoren durch? Hätte es sich stattdessen für einen ordentlichen
Rezensenten nicht gehört, den Finger auf die Wunden menschlicher und
musikalischer Fehlbarkeiten zu legen? Ein verpatzter Ton im Gitarrenpart
des „Rockpommel“-Finales - eine Keyboard-Panne bei „Mary Green“? Mir
persönlich zeigen solche kleinen Ausrutscher lediglich, das da auch nur
Menschen auf der Bühne stehen - Leute, die angetreten sind, einer Menge
Musikfans drei Stunden und länger einen schönen Abend zu machen. Im
Eifer des Gefechts kann schon mal was daneben gehen - aber Rezensionen
solcher Art überlasse ich Marcel Arm-Armani o. ä. - auch an diesem Abend
haben Musik und Show die Zuhörer verzaubert, zum Lachen und Weinen
gebracht, Gänsehäute en Gros generiert und eine riesige Portion
ungebremsten Glücks transportiert - was will man mehr?
Klar kann man Vergleiche früher-heute
anstellen oder die Kompositionen analysieren - aber, Hand aufs Herz:
gehen wir deswegen auf Konzerte? Ich nicht!
Ich spüre nur jedes Mal aufs Neue,
wenn diese Musik erklingt, dass sie für mich immer noch so etwas
Besonderes ist wie damals in den 80er Jahren und ein wenig beklemmende
Erinnerung macht sich breit an die Zeit, als es diese Band für lange
Jahre nicht gab. Mit jedem neuen Live-Erlebnis wird mir auch bewusst,
was mir zwischen 1989 und 2007 so gefehlt hatte. Und es gibt Tage, da
kann ich es kaum fassen, dass wir Fans dies alles tatsächlich erleben -
was wäre, wenn das alles nur ein Traum wäre? Die „Next Party“ nur ein
Film im Kopf, die „Reise nach Rockpommel's Land“ und der „Sonnentanz“
nur wilde Wunschträume? Wie bei allen schönen Gespinsten ist da die
Angst vor einem umbarmherzig schrillenden Wecker, vor dem Erwachen in
einer unfreundlichen Welt.
Nun, die beseelte gesangliche
Intonation von Willi Wildschwein, Toni Moff Mollo und Milla Kapolke (die
auch für Licht, Akustikgitarre und Bass stehen), die ausgereiften
Gitarrenparts von Nuki Danielak und Manu Kapolke, die treibenden
Trommelkaskaden von Admiral Möller und Demian Hache sowie Deva Tattvas
organische Keyboardklänge fühlten sich, trotz aller Schönheit, doch sehr
real an - und, sollte das alles, was wir seit nunmehr drei Jahren wieder
live auf den Bühnen des Landes erleben dürfen, tatsächlich ein Traum
sein, habe ich nur einen Wunsch: „Bloß nicht jetzt aufwachen!“
Günther Klößinger, 09.05.2010